Freiwilligenmanagement – führen ohne Macht

Christoph Härter ist Berater, Supervisor und Coach von BENEVOL in St. Gallen. In seinem Beitrag beschäftigt er sich mit den Herausforderungen modernen Freiwilligenmanagements. Der Beitrag wurde zuerst bei zürich freiwillig (2006) und kürzlich auch bei BENEVOL veröffentlicht. Wir danken Herrn Härter für die freundliche Genemigung, diesen lesenswerten Beitrag auch hier einstellen zu dürfen. Vielen Dank.

Im Zuge der Professionalisierung in Non-Profit-Organisationen ist die Führung der Freiwilligenarbeit zu einer anspruchvollen Managementaufgabe geworden. Sie muss den Spagat zwischen den Ansprüchen der Organisation und den Begrenzungen der Freiwilligkeit bewältigen: Die hohe Kunst der Führung ohne Macht.

„Neue“ Freiwillige

Die Voraussetzungen der Freiwilligenarbeit haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Immer mehr Menschen, die heute ein freiwilliges Engagement eingehen verstehen sich als gleichwertige Partner, die über eine bestimmte Zeit unentgeltlich eine Leistung erbringen. Sie machen das nicht nur aus Nächstenliebe, sondern weil sie sich von der freiwilligen Tätigkeit auch einen persönlichen Gewinn versprechen. Die einen finden dadurch soziale Kontakte, andere einen Ort, wo sie ihr Fachwissen oder ihre Lebenserfahrung einbringen oder einem persönlichen Anliegen Gewicht verschaffen können. Geprägt von einer Arbeitswelt, die klare Ziele und Rahmenbedingungen fordert, erwarten diese Freiwilligen auch ein gutes Management für ihr Arbeitsfeld. Dazu gehören Auftragsklärung, Planung der Arbeit und Unterstützung bei der Umsetzung, Weiterbildung, Information, unkomplizierte Spesenabrechnungen und das Einstehen gegenüber der auftraggebenden Organisation.

Ansprüche der Organisationen

Auf der andern Seite steht die Organisation, Kirchgemeinde oder Institution, welche Freiwillige zur Umsetzung ihrer Ziele einsetzt. Im Zuge der Professionalisierung und systematischen Qualitätssicherung in Non-Profit-Organisationen werden an das Freiwilligenmanagement immer höhere Anforderungen gestellt. An vielen Orten wird konkret mit der Leistung der Freiwilligen gerechnet, qualitativ und quantitativ. Damit ist die Freiwilligenarbeit Teil der Unternehmensstrategie und deshalb eingebunden in die wirtschaftlichen und führungstechnischen Ansprüche des Managements.

Wenig strukturelle Macht

Die Erwartungen an das Freiwilligenmanagement sind also von Seiten der Freiwilligen und der Auftraggeber her hoch. Dem gegenüber steht ein ganzes Stück Machtlosigkeit. Die Organisationen betonen zwar die grosse Bedeutung der Freiwilligenarbeit, ohne die die Unternehmensziele nicht erreicht werden könnten. Dennoch – wenn es um Entscheide, Ressourcen und inhaltliche Mitbestimmung geht, steht doch die professionelle Erwerbsarbeit im Vordergrund. Die Freiwilligenarbeit wird in diesem Moment wieder zum ergänzenden Hilfsdienst. Dass Unterschiede zwischen bezahlter und nicht bezahlter Arbeit gemacht werden müssen ist zwar in vielen Belangen richtig und nachvollziehbar. Für die Verantwortlichen im Freiwilligenmanagement bedeutet dies jedoch einen Spagat zwischen Anspruch und Möglichkeiten.

Führen ohne Vertrag

Doch auch gegenüber den Freiwilligen besteht eine Machtlosigkeit. Auch bei klaren Einsatzvereinbarungen und Abmachungen bleibt eine viel grössere Unverbindlichkeit als bei einer arbeitsrechtlichen Anstellung. Selbst vereinbarte „Kündigungsfristen“ sind letztlich Absichtserklärungen, die rechtlich nicht eingefordert werden können. Die zeitliche Begrenzung der Freiwilligeneinsätze schränkt die Führungs- und Personalentwicklungsmöglichkeiten massiv ein. Die Leute sind nicht so verfügbar wie Angestellte, weil sie viel weniger Zeit in der Organisation verbringen als diese. Das wirkt sich beispielsweise bei der Qualitätssicherung aus. Es ist eine Kunst, für qualifizierte Freiwilligenarbeit eine zeitlich und fachlich angemessene Weiterbildung zu installieren. Auch bei Konfliktsituationen ist es schwieriger, wenn die Mitarbeitenden wenig da sind und ihren Dienst auch noch freiwillig tun.

Macht-los führen als Herausforderung

Freiwilligenmanagement ist also eine äusserst vielschichtige, anspruchsvolle Aufgabe. Es beinhaltet alle Aspekte des NPO-Managements, muss jedoch unter anderen, nämlich macht-loseren Voraussetzungen geleistet werden als im Zusammenhang mit Angestellten.

Dies macht die Aufgabe für die einen unmöglich, für die andern besonders herausfordernd. Denn wer ohne strukturelle Macht führen soll, muss auf andere Werte bauen. Überzeugungsarbeit, Empowerment, Partizipation und vertrauensbildende Massnahmen sind einige davon. Gegenüber der Organisation kann die Position auch dazu genutzt werden, die Führung an ihre Ideale, die oft im Leitbild dargestellt werden, zu erinnern und sie darauf zu verpflichten.

Unterstützung für Führungskräfte

Diese herausfordernde Aufgabe ruft nach Unterstützung. Es ist wichtig, dass den Führungskräften entsprechende Weiterbildung angeboten wird. Darüber hinaus sind Austauschmöglichkeiten und Begleitung wichtig. Wertvolle Möglichkeiten sind Angebote von Gruppen-Supervision oder Coaching für Führungspersonen der Freiwilligenarbeit, wie sie Benevol anbietet. Hier können konkrete Herausforderungen der Führungsarbeit bearbeitet und Lösungswege gesucht werden. Auch Intervisionsgruppen, Fachberatung und Materialbörsen sind hilfreiche Möglichkeiten zur Unterstützung.

Mit einem klaren Profil und innerer Stärke kann auch ohne strukturelle Macht erfolgreich geführt werden.

Deutschland braucht 90.000 Freiwillige — und zwar sofort

Jayne Cravens (www.coyotecommunications.com) veröffentlichte diesen Beitrag zuerst am 27. Dez. 2010 in englischer Sprache auf ihrem Weblog. Für die deutsche Übersetzung danken wir Herrn Stefan Dietz.

Die Tage der Wehrpflicht – und der Zivis – sind vorbei ab 2011. Hunderte Wohlfahrtsorganisationen in ganz Deutschland, die auf die Arbeit der fast 100.000 einberufenen vertraut haben, sehen sich jetzt einer radikalen Verringerung ihrer Arbeitskräfte gegenüber. Viele Organisationen glauben nicht, daß sie ausreichend Freiwillige finden können um die Routinearbeit zu erledigen, die bis jetzt von Zivis erledigt wurde – spülen, Räume reinigen, Mahlzeiten zubereiten, usw.

Kann Deutschland 90.000 Freiwillige rekrutieren um die Zivis zu ersetzen? Ja – aber es verlangt ein fundamentales Umdenken wie deutsche Wohlfahrtsorganisationen die Rolle von Freiwilligen verstehen, und VIEL Übung und Unterstützung um dieses neue Denken auch umzusetzen.

Deutschland versteht bereits den Wert von Freiwilligen in Feuerwehren. Deutschland hat die meisten Freiwilligen Feuerwehrleute pro Einwohner aller Länder weltweit. In einer deutschen Gemeinde mit einer freiwilligen Feuerwehr muß nach 8 Minuten erste wirksame Hilfe durch die Feuerwehr geleistet werden. Freiwillige Feuerwehrleute erhalten die gleiche Ausbildung wie Berufsfeuerwehrleute, es gibt keine zwei Klassen-Ausbildung. Freiwillige bleiben für Jahre, nicht nur für Wochen oder Monate. Und freiwillige Feuerwehrleute bekämpfen Feuer, retten Menschenleben und schützen Sachwerte. Ja, sie machen auch Routinearbeit, aber sie bekämpfen auch Feuer. Ob sie es wissen oder nicht, Deutsche vertrauen bereits jetzt Freiwilligen mit Aufgaben von entscheidender Bedeutung; Deutsche müssen dies auf andere soziale Aufgaben ausdehnen.

Der Anfang: Deutsche Wohlfahrtsorganisationen müssen Freiwillige für mehr als nur Routinearbeiten einsetzen:

  • Sie müssen sie genauso ansehen wie Organisationen in den USA, deren Mitarbeiter hauptsächlich Freiwillige sind. Freiwillige übernehmen den Grossteil der Leistungen, die das Amerikanische Rote Kreuz und die `Girl Scouts of the USA` (Girl Guides) anbieten, so übernehmen sie nicht nur die Routinearbeit, sondern auch Führungspositionen. Viele ihrer Freiwilligen bleiben für Jahre und nicht nur für Wochen oder Monate, weil sie viel mehr tun als nur die Routinearbeit. Das Ehrenamt variiert in verschiedenen Kulturen in vielen Aspekten, aber eines bleibt immer gleich, Kultur zu Kultur, Land zu Land: Freiwillige wollen merken, dass ihre Arbeit wichtig ist, nicht nur nett, sondern notwendig.
  • Zusätzlich muss ein Ehrenamt mit Hochschulen und Universitäten verbunden werden, wo dies angemessen ist. So, dass Schüler und Studenten praktische Erfahrungen sammeln und anwenden können was sie in Unterricht lernen — “service learning.” Bestimme Ehrenämter sollten den Freiwilligen bei der Hochschule oder Universität angerechnet werden.

Um diese Transformation möglich zu machen, benötigt es intensive und fortgeschrittene Freiwilligen-Management-Schulungen für Wohlfahrtsorganisationen, für Universitäten und für Regierungsbehörden. Es kann auch bedeuten, Angestellte zu bezahlen um die Routinearbeiten zu erledigen, während Positionen mit mehr Verantwortung für Freiwillige reserviert werden – für viele Leute ist dies eine radikal Denkensweise.

Ich habe ein paar Schulungen in Deutschland geleitet und war erstaunt wie weit zurück dieses Land ist im Bezug auf Management von Freiwilligen“? :

  • Vertreter von Freiwilligen-Zentren erzählten mir, sie würden keine Online-Datenbank für verfügbare Ehrenämter benutzen, weil “dann wird niemand unsere Freiwilligen Zentrum besuchen.”
  • Leute, die mit Freiwilligen in verschiedenen Organisationen gearbeitet haben, erzählten mir, dass sie keine niedergeschriebenen Richtlinien und Handlungsweisen haben, und wenn ich sie fragte wie sie eine Auswahl ihrer Freiwilligen treffen, habe ich wieder und wieder gehört: “Ich merke ob jemand ein guter Freiwilliger sein wird, wenn ich nur mit ihm spreche. Ich habe das im Gefühl.”
  • Einwohner mit Migrationshintergrund sind weit unterrepräsentiert in der Belegschaft der meisten Wohlfahrtsorganisationen und gemeinnützigen Organisationen in Deutschland. Man kann z.B. in eine Gemeinde mit deutlichem türkischem Bevölkerungsanteil gehen, aber man wird keinen Freiwilligen dieser Bevölkerungsgruppe im örtlichen Freiwilligen Feuerwehrhaus antreffen. In meinen acht Jahren in Deutschland habe ich nie eine Wohlfahrtsorganisation oder gemeinnützige Organisation, die Freiwillige einbezieht, gefunden, die Anwerbung speziell auf Minderheiten zugeschnitten hatte – ja, ich habe danach gesucht.

Es ist eine herausfordernde Zeit für Deutschland, aber es ist auch eine einzigartige Gelegenheit für Deutschland, um die Einbeziehung von Freiwilligen zu steigern; und um seine Gesellschaft in einer positiven und nachhaltigen Weise zu transformieren. Deutschland könnte zu einem Vorbild in der restlichen EU werden! Aufgepasst Deutschland: Ich bin bereit zu helfen!

Lesen Sie mehr in diesem Bericht auf NPR (nur in Englisch).

Sessionbericht: “Freiwilligenarbeit in Deutschland – Zukunft hat Geschichte”

Ein Bericht von Katrin Unger und Hannes Jähnert


Am 19. und 20. November 2010 fand das dritte Berliner SocialCamp statt. Auf diesem jährlich stattfindenden BarCamp treffen sich Internetspezialistinnen und -spezialisten mit Mitarbeitenden zivilgesellschaftlicher Organisationen und Initiativen um sich über den Einsatz neuer Medien in Non-Profit-Organisationen (NPO) auszutauschen und voneinander zu lernen. Nach drei Jahren ist das Berliner SocialCamp eine Institution, bei der es längst nicht mehr nur darum geht NPO-Mitarbeitende von den mannigfaltigen Möglichkeiten des (neuen) Internets zu überzeugen. Das SocialCamp ist mittlerweile auch ein Ort, an dem neue Entwicklungen im Dritten Sektor abseits des Einsatzes neuer Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten diskutiert werden.

Auch freiwilligenmanagement.de war beim diesjährigen SocialCamp in den Räumen der Humboldt Viadrina School of Governance vertreten und hat – wie es sich für echte BarCamperinnen und -Camper gehört – auch eine Session (mit)gestaltet. Gemeinsam mit Dr. Brigitte Reiser von Nonprofits-Vernetzt und Stefan Zollondz von Net-Polis – Sozialarbeit 2.0 schrieben wir die Geschichte und Zukunft der Freiwilligenarbeit in Deutschland auf den Plan. Ausgehend von einem historisch-philosophischen Enträtselungsversuch deutscher Freiwilligkeit sollte es vor allem um die Theorie und Praxis der Koproduktion im dritten Sektor gehen. Dankenswerter Weise führte Katrin Unger in dieser Doppelsession (2 x 45 Minuten) Protokoll, sodass wir hier nicht nur von den Inputs, sondern auch von der Diskussion berichten können.

Zu den Wurzeln der deutschen Freiwilligenarbeit

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde, in der deutlich wurde, dass das SocialCamp nicht mehr nur der Ort für kleinere Initiativen und Start-Ups ist, sondern durchaus auch Vertreterinnen und Vertreter größerer Kaliber anzutreffen sind, startete Hannes Jähnert (freiwilligenmanagement.de) mit einem genealogischen Blick auf die Wurzeln der deutschen Freiwilligenarbeit. Dazu kurz eine Erläuterung:

Fragt man Expertinnen wie Laien nach den Wurzeln der Freiwilligenarbeit in Deutschland und Europa wird man sehr unterschiedliche Antworten bekommen. Die einen wähnen die Wurzeln deutscher Freiwilligenarbeit bei den12 Aposteln, die anderen in der APO der 1960er und 70er Jahre, die nächsten meinen die Wurzeln des deutschen Sonderwegs der Freiwilligenarbeit im bürgerlichen Ehrenamt der Armenfürsorge in Zeiten der Industrialisierung zu erkennen und wieder andere halten die Kriegsfreiwilligkeit für die Geburt der Freiwilligenarbeit. Das ist sicherlich auch alles richtig, doch hat sich die Freiwilligenarbeit in Deutschland (wie überall auf der Welt) über Jahrhunderte aus vielerlei Strängen entwickelt. Anstatt also von einer Wurzel der Freiwilligenarbeit auszugehen, ist es durchaus sinnvoll, mehrere Entwicklungslinien in der Geschichte zu verfolgen, die sich, wie die Wurzeln eines Baumes, im Jetzt zu einem Stamm zusammenfügen, den wir freiwilliges oder bürgerschaftliches Engagement bzw. Ehrenamt nennen.

Anhand zwei bedeutender Entwicklungsstränge deutscher Freiwilligenarbeit, dem Kriegsdienst und des bürgerlichen Ehrenamtes in Zeiten der Industrialisierung, zeigte Hannes Jähnert also zunächst, dass die Freiwilligenarbeit in Deutschland eher von der kommunitaristischen (republikanischen) Vorstellung einer Bürger- oder Zivilgesellschaft geprägt ist denn von einer liberalen. Auch wenn es heute nicht mehr als Freiwilligenarbeit wahrgenommen wird, finden sich im deutschen Recht – das tradierte Denkweisen erstaunlich lang zu konservieren im Stande ist – doch noch Rudimente von Kriegsfreiwilligkeit (freiwillig länger dienende Mannschaftsdienstgrade in der Bundeswehr) und altem Ehrenamt (in Gestalt des Schöffen / der Schöffin).

Nach dieser, zugegeben etwas provokanten, Einführung in die Geschichte deutscher Freiwilligenarbeit entbrannte augenblicklich eine Diskussion um die Frage, inwieweit sich ein Paradigmenwechsel vom kommunitaristischen zum liberalen Verständnis von Freiwilligenarbeit in Deutschland vollzogen hat bzw. aktuell vollzieht. Besonders durch die Demokratisierungsbemühungen der amerikanischen Besatzungsmacht nach dem zweiten Weltkrieg – so einige Teilnehmende – sollte das republikanische Verständnis von Bürgergesellschaft doch mittlerweile einem liberalen gewichen sein. Soziale Bewegungen, wie die APO oder die Frauenbewegung der 1960er und 70er Jahre würden das doch gut zeigen. Zudem – so andere Teilnehmende – haben sich die Motive der Engagierten geändert. Wurde das Engagement in früheren Tagen eher extrinsisch motiviert, schöpfen heutige Freiwillige ihre Motivation aus einem intrinsischen Antrieb, was wiederum als Beleg einer Liberalisierung ausgelegt wurde. Freiwilliges Engagement, so könnte man die Diskussion kurz zusammenfassen, ist heute eher von der Selbstorganisation der Bürgerinnen und Bürger, denn von der Übernahme quasi-staatlicher Aufgaben geprägt.

Theorie der Koproduktion im Dritten Sektor

Mit einem weniger retrospektiven denn vielmehr gegenwarts- und zukunftsbezogenen Blick referierte Dr. Brigitte Reiser über das Konzept der Koproduktion im gemeinnützigen Bereich. Trotz der Ambivalenz des Konzeptes – man denke an unintendierte Folgen wie die Drosselung staatlicher Leistungen – plädierte sie für eine Erweiterung der bisher vor allem auf die Produktion bzw. die Umsetzung von sozialen Dienstleistungen beschränkten Möglichkeiten. Freiwilliges Engagement sollte demnach neben Helfertum auch die stärkere Einbindung der engagierten Bürgerinnen und Bürger in Planungs- und Steuerungsprozesse bedeuten.

Eine vollständige Koproduktion – die also auch Gelegenheiten zur bürgerlichen Mitbestimmung eröffnet – so Reiser, würde bislang vor allem durch die Dominanz der Professionen und die Hierarchien im wohlfahrtsstaatlichen Bereich behindert. Aber auch von staatlicher Seite wird das (demokratische) Potenzial, das eine umfassendere Beteiligung von Engagierten bieten könnte, verkannt bzw. nicht gefördert.  Es gibt also noch einige Schwierigkeiten und damit auch notwendige Veränderungen um eine vollständige Koproduktion in Deutschland erreichen zu können.

Profitieren könnten dabei alle Seiten: NPO’s zum Beispiel durch die bessere Anbindung an die Zivilgesellschaft und die Verbesserung ihrer Dienstleistungen durch den Einbezug der Bürgerinnen und Bürger, welche ja nicht zuletzt auch Abnehmer der Dienste sind. Letztere wiederum könnten durch den (erneuten) Einfluss auf diese sozialen Dienstleistungen gesellschaftliche Gestaltungsräume zurückgewinnen.

Praxis der Koproduktion im Dritten Sektor

Ausgehend von dieser eher theoretischen Perspektive, setzte Stefan Zollondz die Session mit einem Beitrag über die Praxis von Koproduktion fort. Als konkretes Beispiel nutzte er ein Generationenhaus und Stadtteilzentrum der AWO in Bielefeld. Dabei widmete sich Zollondz sowohl den verschiedenen Standpunkten von NPO’s und der Politik zum Thema Koproduktion als auch deren (zukünftigen) Aufgaben um vollständige Koproduktion voranzutreiben. Auf staatlicher Seite müsse beispielsweise der Gedanke der Kosteneinsparungsmöglichkeiten durch Bürgerbeteiligung in den Hintergrund treten, ansonsten würde die Ausweitung der Koproduktion mit der Angst einhergehen, staatliche Mittel für soziale Dienste zu verlieren. NPO’s sollten sich auf der anderen Seite bemühen, das Konzept bekannter zu machen, denn der Mitbestimmungsgedanke müsse zunächst auch bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommen.

Diskussion

In der anschließenden Diskussion ging es vor allem um die Frage, von Gelingensfaktoren für eine umfassendere Einbindung von engagierten Bürgerinnen und Bürgern. So müssten vor allem Strukturen und Hierarchien innerhalb der Non-Profit-Organisationen und öffentlichen Einrichtungen für eine Mitwirkung von außen geöffnet werden und organisationsinterne Strategien zur Einbindung Freiwilliger erarbeitet werden.

Vor allem die Mitwirkung bei Planungsprozessen – so ein Einwand aus der Diskussionsrunde – setzt vor allem ein zuverlässiges, eher langfristiges Engagement von entsprechend qualifizierten Freiwilligen bzw. Ehrenamtlichen voraus. Von Bedeutung ist deshalb insbesondere der Aufbau eines Freiwilligenmanagements, das die Auswahl, Qualifizierung, aber auch die Einsatzplanung und –koordination von Engagierten ermöglicht. Gleichzeitig sei es aber auch wichtig, dass Ehrenamtliche und Freiwillige nicht die Arbeit Hauptamtlicher ersetzen. Sie können der Arbeit vielmehr eine andere Qualität verleihen – Ressourcen könnten gebündelt werden; Professions- und Bürgerwissen können sich ergänzen.

Natürlich durfte auf dem SocialCamp die Frage nach den Potenzialen, die das Internet für Koproduktion bietet, nicht fehlen. Wenn der Trend zum eher sporadischen, kurzfrisitgen oder auch  Online- und Micro-Engagement geht, wie kann dann ein verlässliches Netzwerk von Freiwilligen aufgebaut werden? Als vorbildliches Beispiel wurde hier das Österreichische Rote Kreuz genannt, das sein Netzwerk über Facebook erfolgreich pflegt und hierüber beispielsweise Freiwillige für Textübersetzungen findet. Das Problem jedoch: Vor allem traditionelle Organisationen öffnen sich nur langsam und häufig nur gegen große Widerstände den neuen Möglichkeiten, die der Interneteinsatz eröffnen kann. Ein großer Nachteil gegenüber kleinen, agilen und innovativen Initiativen und Organisationen. Diese können dann schließlich auch eine stärkere Mitwirkung von Engagierten ermöglichen und die Macherinnen und Macher unter den Engagementwilligen gewinnen. Gefühlt – so ein Fazit der Runde – gewinnen sie deshalb auch den „Kampf“ um die „guten Freiwilligen“.

Eine weiterführende Diskussion zum Thema Förderung „echter Partizipation“ läuft in der aktuellen NPO-Blogparade.

Partizipation von Bürgern fördern – aber wie?

Dieser Beitrag schien zuerst im Weblog von Brigitte Reiser.

Die “Nationale Engagementstrategie” der Bundesregierung, die Anfang Oktober verabschiedet wurde, will das Bürgerengagement stärken. Die Engagementstrategie bildet die Grundlage “für eine gemeinsame und aufeinander abgestimmte Engagementförderung aller Ressorts. Ziel ist es, durch geeignete Rahmenbedingungen einen Nährboden zu schaffen, auf dem bürgerschaftliches Engagement in seiner ganzen Vielfalt an Motiven und Ausgestaltungsmöglichkeiten gedeihen kann” (S. 6).

Eine wirklich ausgearbeitete Strategie findet man in dem Beschluß allerdings nicht, was erhebliche Kritik hervorgerufen hat. Vielmehr enthält das Regierungspapier eine Ansammlung von Einzelzielen bezogen auf bestimmte Politikbereiche (Integration/Bildung/Umwelt/Demographischer Wandel/Internationale Zusammenarbeit) und eine Auflistung von unzähligen Modellprojekten zum Thema Bürgerengagement, die die Ressorts jetzt schon fördern. Auf Seite 7 wird jedoch klargestellt, dass die veröffentlichte “Engagementstrategie” nicht als abgeschlossen zu betrachten ist, sondern unter Beteiligung von Bürgern weiterentwickelt werden soll.

Dazu wurde u.a. die Plattform ENGAGEMENTzweinull eingerichtet, auf der Bürger ihre Anmerkungen zum Kabinettsbeschluss und ihre Vorschläge für die Förderung des Bürgerengagements einbringen können. Die öffentliche Online-Konsultation startet am 22. November. Die Ergebnisse der Konsultation werden der Bundesregierung vorgelegt und im Netz veröffentlicht. Ohnehin sind schon die Beratungsergebnisse des Nationalen Forums für Engagement und Partizipation, in dem Experten aus Staat, Wirtschaft und Bürgergesellschaft vertreten sind, in die Engagementstrategie der Bundesregierung eingeflossen.

Soviel Bürgerbeteiligung ist löblich, ändert aber nichts an der Tatsache, dass das Thema ‘Förderung des Bürgerengagements’ mit der Engagementstrategie des Bundes zu einem “zentralstaatlich gesteuerten Anliegen” geworden ist (Dahme/Wohlfahrt 2010, 146). Der wichtigste Satz im Kabinettsbeschluss lautet: “Bund, Länder und Kommunen sind zentrale Akteure in der
Engagementförderung” (S. 5).

Ich für meinen Teil halte nicht den Staat, sondern den Dritten Sektor für den zentralen Akteur, wenn es darum geht, das Engagement von Bürgern auszuweiten. Es sind die gemeinnützigen Organisationen, in denen – zumeist auf lokaler Ebene – Bürgerengagement und Bürgerbeteiligung stattfinden. Also ist auch der Dritte Sektor der Dreh-und Angelpunkt für den weiteren Ausbau von Partizipationsmöglichkeiten.

Der Staat kann hier durchaus fördernd wirken – mit finanziellen Mitteln, Gesetzen und Leistungsvereinbarungen, die auf mehr Mitbestimmung von Bürgern drängen. Aber er kann gemeinnützigen Organisationen – und hier speziell der verbandlichen Wohlfahrtspflege  – nicht die Aufgabe abnehmen, ihr Verhältnis zur Zivilgesellschaft neu zu bestimmen und ihre Bereitschaft, Bürger als Mitgestalter (und nicht nur als Helfer) einzubeziehen, weiterzuentwickeln.

Was mir auffällt, ist folgendes: sowohl die nationale Engagementstrategie als auch die Beratungsergebnisse des Nationalen Forums für Engagement und Partizipation blenden die Verantwortung des Dritten Sektors als institutionellem Ort des Bürgerengagements weitgehend aus. Man liest ununterbrochen, wie wichtig das Bürgerengagement ist und dass Bürger sich unbedingt ins Gemeinwesen einbringen sollten. Aber es wird nicht thematisiert, welche Verantwortung dem Dritten Sektor dafür zukommt, dass Bürger sich nicht engagieren oder ihren Einsatz aufgeben, weil sie mit den starren Strukturen in verbandlichen Einrichtungen nicht zurecht kommen oder weil sie nach und nach merken, dass an ihren inhaltlichen Anregungen in dem professionellen Umfeld niemand interessiert ist und sie nur als Helfer gebraucht werden, aber nicht als Mitbestimmer und -entscheider.

Die Responsivität des Dritten Sektors, seine Öffnung nach außen hin, seine stärkere Vernetzung mit der Zivilgesellschaft und seine  Bereitschaft zur Ausweitung von Mitbestimmungsmöglichkeiten – das sind die zentralen Anknüpfungspunkte, wenn man das Bürgerengagement fördern will.

In einem Beitrag für die Stiftung Mitarbeit habe ich auf die Bedeutung der institutionellen Strukturen für das Bürgerengagement hingewiesen:

“Wenn es um die Partizipation in gesellschaftlichen Organisationen geht, kann man die bürgerschaftliche Seite nicht ohne die institutionelle betrachten. Beide Seiten gehören zwingend zueinander und befinden sich in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Die Beteiligung von Bürgern am Organisationshandeln setzt voraus, dass Institutionen Partizipationsräume schaffen und sich gegenüber Bürgervorschlägen responsiv verhalten (…) Umgekehrt benötigt eine Organisation, die sich stärker zur Zivilgesellschaft hin öffnet, Bürger, die ihre Kompetenzen und ihr Wissen einbringen können und wollen. Erfolgreiche Bürgerbeteiligung in Organisationen hängt demnach auch von den Partizipationsressourcen der Bürgerschaft und nicht nur von den institutionellen Beteiligungsangeboten ab.

Wir haben es also mit der Gleichung „Bürgerbeteiligung = Responsivität von Organisationen“ zu tun und es geht darum, auf beiden Seiten dieser Gleichung zu arbeiten, wenn das Bürgerengagement und damit die Demokratisierung unserer Gesellschaft weiter vorangetrieben werden soll (..)” (Reiser 2010, 1).

Man kann das Bürgerengagement nicht zentralstaatlich verordnen und erfolgreich fördern, man kann nur Strukturen schaffen – vor allen Dingen lokal – die Bürger als Mitgestalter und Partner ernst nehmen. Und hier müssen gemeinnützige Organisationen die Hauptverantwortung übernehmen. Es macht keinen Sinn, die Verantwortung von sich weg und dem Staat zu zu schieben, weil eine wirkliche Öffnung für bürgerschaftliche Mitarbeit zu schmerzhaften Veränderungen speziell im verbandlichen Nonprofit-Bereich führen würde. Bürgerbeteiligung kostet ihren Preis, – man erhält sie nicht ohne eine Demokratisierung verbandlicher und professioneller Entscheidungsstrukturen.

Meines Erachtens müssen vier Aufgabenfelder im Mittelpunkt stehen, wenn die Mitarbeit und die Partizipation von Bürgern gefördert werden soll:

  • die Schaffung von mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten im Dritten Sektor. Dies bedeutet, dass sich die gemeinnützigen Dienstleister von ihrer professionellen Dominanz verabschieden müssen. Die Zukunft gehört Koproduktionsmodellen, bei denen Bürger und Sozialeinrichtungen gleichberechtigt miteinander soziale Dienstleistungen konzipieren und erbringen.
  • die Förderung der Beteiligungskompetenzen von Bürgern und Communities. Es reicht nicht aus, im Dritten Sektor jeweils organisationsintern das freiwillige Engagement zu fördern. Notwendig ist der Blick auf das Gemeinwesen bzw. auf die unterschiedlichen Communities in den Gemeinden, die gestärkt werden müssen. Der einzelne Bürger wird durch eine vielfältige und handlungsstarke Zivilgesellschaft in seinen individuellen Partizipationsbemühungen unterstützt.
  • der Aufbau von Netzwerken auf kommunaler Ebene, die Bürger, Dritt-Sektor-Organisationen, staatliche und wirtschaftliche Akteure umfassen. Wo viele Communities untereinander gut vernetzt sind, existiert mehr Bürgerbeteiligung als in Gemeinden ohne entsprechende Netzwerkstrukturen. Wichtig ist nicht nur die Vernetzung an sich, sondern insbesondere der Ressourcenaustausch der Akteure untereinander und das Handeln der Beteiligten.
  • die Einbeziehung des Internets in die alltägliche Arbeit von gemeinnützigen Organisationen. Es bietet die Infrastruktur für Vernetzung, Kooperation und kollektive Aktionen. Um niemanden auszuschließen sollte die digitale Inklusion ein wichtiges Arbeitsfeld für alle sein, die Leistungen mit Bürgern und für Bürger erbringen.

Wer an diesen vier Ideen im Detail interessiert ist, kann hier meinen gesamten Aufsatz lesen, der im Wegweiser Bürgergesellschaft 19/2010 erschien. Der Beitrag wird in einem Band der Stiftung Mitarbeit über die Zukunft der Bürgerbeteiligung erscheinen, der die Vorträge der gleichnamigen Tagung, die im September stattfand, enthält.